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Neue Versuche der ökonomischen Selbstausbeutung

Neues Jahr, neue Möglichkeiten sich in die Scheiße zu reiten. Aber easy, der Vorsatz, die guten Vorsätze für 2024 zu befolgen, gilt noch. Man sieht das am Schwimmbad, das um 200 Prozent voller ist als gegen Ende letzten Jahres. Währenddessen sieht der Jobmarkt scheißer aus als je zuvor. Niedriglohnsektor. Ist ja mein liebstes Betätigungsfeld, wenn es darum geht, Brot zu kaufen und Butter. Familie und so. Kinder wollen essen, habe ich gehört. Außerdem meine geilen Schulden beim Finanzamt. Die privaten Gläubiger. Die emotionalen Schulden, die ich überall über die Jahre angehäuft habe, rechne ich jetzt mal nicht mit. Auch egal. Wir waren ja beim Arbeitsmarkt. Ich also, melde mich bei einem dieser maximale Kumpeligkeit ausstrahlenden Onlineplattformen für Studierende an. Nennen wir sie mal Studibucht, weil so heißt es. Da, wo man sich Seminar- und Abschlussarbeiten schreiben lassen kann. Gabs früher schon, am schwarzen Brett in der Uni. Also im vordigitalen Zeitalter der Selbstausbeutung. Meint: es ist einfach ein „Angebot“ zu machen, das etwa sagt: Betrag x für meine So-und-so-Arbeit im Fach Dingsbums. Kann man ja ganz leicht ignorieren, wenn Betrag x ein lächerlicher Fantasiepreis ist, der runtergerechnet auf einen zum Beispiel Stundenlohn bei 50 Cent liegt, oder 30 Cent. Studibucht als Vertreterin der digitalen Variante und als Service an gestressten Studierenden, die lieber ihrem eigenen Ausbeutungsjob nachgehen, um sich die Seminararbeit von irgendeiner unsichtbaren Dienstleisterin ghostwriten zu lassen, übernimmt die Schnittstelle zwischen „Auftragnehmerin“ und „Auftraggeberin“. In einem schon süßen Ton der Easyligkeit bekomme ich Auftragsangebote, die lauten wie dieses am18.1., 21.42 Uhr :

Guten Abend, 

ich habe ein Angebot für Sie.

10 Seiten bis zum 02.02. Die Vergütung beträgt 150 Euro.

Der Plan der Teillieferungen:
21.01 – Gliederung+Literatur;
28.01 – die zweite Teillieferung von 5 Seiten;
02.02 – die dritte Teillieferung von 5 Seiten;

Arbeitstyp: Hausarbeit
Fachrichtung: Philosophie
Zitierweise: Deutsche Zitierweise
Thema der Arbeit: Thomas Hobbes und sein Menschenbild in Leviathan

Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie Interesse daran haben.
Ich bin mir sicher, dass unsere Zusammenarbeit angenehm und für beide Seiten vorteilhaft sein wird.

Liebe Grüße,
Lina W.

Ich hatte auch schon ein „Angebot“ kurz vor Weihnachten, eine Philosophiebachelorarbeit über das Thema „Gerechtigkeit“ zu schreiben, angefangen bei Platon mit heutigen Bezügen – also die gesamte Philosophiegeschichte des Abendlandes und einen Universitätsabschluss in circa sechs Wochen für 450 Euro. Hm. Gern hätte ich dieses Angebot angenommen für den fünffachen Preis und die mindestens dreifache Zeit. Aber gut, meine Meinung. Bin ich finanziell so verzweifelt, mich über die Feiertage und den Jahreswechsel in die Bibliothek einzuschließen, die logisch gar nicht auf hat, oder bin ich nicht verzweifelt genug, ein solches „Angebot“ anzunehmen?

Mein letzter Job war, für eine große politische Stiftung wissenschaftliche Publikationen Korrektur zu lesen. Nach weniger als drei Jahren wird diese Stelle auf Honorarbasis gestrichen. Sparmaßnahmen, Vermeidung von Scheinselbstständigkeit – und das bei einem Arbeitgeber, der zu 99 Prozent von öffentlichen Geldern finanziert wird. Das war mein erneuter Weg in die Arbeitslosigkeit zum 31.12. Aber welchen Grund habe ich mich, zu beschweren, wenn ich Philosophiearbeiten ghostwriten könnte stattdessen? Die Wege der Selbstausbeutung sind vielfältig, wie alle wissen, die sich im Niedriglohnsektor des deutschen Dienstleistungsbereichs tummeln. Aber warum nicht – ein schlauer Einfall – gegen das „System“ backfighten und KI nutzen? Hausarbeiten von Chatrobotern schreiben und korrigieren lassen. Meine „Tätigkeit“ auf die Fütterung der Maschine beschränken. Ein schöner dystopischer Gedanke, den es sich lohnt, in die Zukunft zu extrapolieren. Philosophie, aber auch BWL und allen anderen Scheiß, der irgendwie „weich“ ist, von Robotern handeln lassen. Und glaubt ihr etwa, dass Dozentinnen nicht auch einfach eine KI die Arbeiten lesen lassen, um sich Zeit zu sparen (um herauszufinden, wie ChatGPT einen „persönlichen Stil“ in die Roboterschreibe integrieren kann, um „effizienter“ zu publizieren, oder so ähnlich)?

Well, ich habe nächste Woche ein Jobinterview. Ich kann Toiletten bei einem sozialen Träger putzen. Die Putzkraft hat sich beim Glatteis den Arm gebrochen und fällt für sechs Wochen aus. Arbeit mit den Händen hat den Vorteil, den Kopf frei zu kriegen und mit bisschen Glück – wenn man das Ego ausgeschaltet kriegt – in einen meditativen Zustand zu gleiten. Kann ich mir Zeit nehmen, um mir über meine „berufliche Zukunft“ Gedanken zu machen. Etwa, ob mich ein Betrieb als Azubi mit 38 Jahren aufnehmen wird, weil ich jetzt Tischler/in (m/w/d) werden will. Oder ob ich mit null Geld eine zweite Auflage eines wunderbaren Romans finanzieren kann. Oder wie ich Geldgeber überzeugen kann, ein Literaturfest in der Uckermark umzusetzen. Während ich gegen meine fickrige Depression und die hübschen Minderwertigkeitskomplexe, die sich im Berliner Winter, Januar 2024, einstellen, kämpfe. Während die Welt am Rand eines weiteren Weltkriegs steht, während die Ozeane explodieren, während Nazis mal wieder vom Übermenschen und Deportationen rumfantasieren.

(Beim Schreiben gehört: Frank Black & The Catholics, Pistolero, spinART Records 1999)