„Ich verstehe die verfickte Jugend nicht mehr, Alter“, hat Sokrates gesagt oder Luther. Damals in Sanssouci. Sokrates, der auch sagte, Philosophieren heißt Sterben lernen, hatte eine pragmatische Einstellung zur Arbeit, man hielt sich logisch Sklaven. Der alte Moralist. Noch in seiner weitläufigen Todeszelle ließ er sich bekanntlich seine im Gespräch formulierten Gedanken von den Lippen abschreiben. Nur das Wort zählte. Beide Hände frei. Wahrscheinlich zum Masturbieren. Luther, der gern laut rülpste und furzte, sagte, verdiene deine Erbsen Linsen Bohnen im Schweiße deines Angesichts, deine Scholle sollst du pflügen mit deiner eigenen Hände Kraft. Sozusagen das Gegenteil der altgriechischen Dauermasturbation. Das sagte er, weil sein Erzfeind Tetzel, ein kleiner Dicker mit Glatze und einem Büschel Resthaar an der Stelle der Stirn, wo bei Babys die Fontanelle ist, immer munter den Klingelbeutel hinhielt. Wenn ihr einzahlt, könnt ihr später einmal mit den Engeln im Himmel Ambrosia schlürfen, aus dem Becher, aus dem Jesus seinen Wein beim letzten Abendmahl trank, damals am Rosenthaler Platz. Verstehste!?
Seit Mike hier arbeitet, ist die Stimmung im Office anders.
Mike kommt aus Offenbach oder Aichach oder Eisenhüttenstadt, das ging irgendwie
unter oder er hat es nicht gesagt. Mike kommt morgens immer zu spät. In der
einen Hand trägt er einen Pappbecher Kaffee, den er in der U-Bahn kauft. Jeden
Morgen. Mikes Krawatte ist ein Statement an die Yuppies der 90er-Jahre als in
Frankfurt New York London es tatsächlich Wirkung zeigte, wenn einer sagte, er
arbeitet an der Börse. Und im Büro Krawatte getragen wurde. Er hat immer so ein
bisschen was Weißes unter der Nase, die er ständig hochzieht. Das Gespür für
das Besondere sieht man ihm durch den Mehrtagebart an. Mike ist unser neuer
Marketing Manager, seine Augen sind oft glasig. Vorher war er Möbelpacker oder
Maulwurf. Weiß gar nicht, ob es solche Berufe heute noch gibt, sah aber
interessant aus, auf seinem CV. „Ich mach mir nichts aus Homeoffice“, sagt Mike,
„ich bin mehr der New-Work-Typ.“ Ich hab mich nicht getraut, nachzufragen, was
das heißt. Meine Angst, mich zu entblöden, ist manchmal mein einziger Antrieb. Im
Meeting sieht Mike dann so aus, als hätte er als Jugendlicher zu viel gekifft.
Dieser halbblöde Ausdruck um den Mund rum, der einen nie mehr verlässt. Neulich
schienen paar Fliegen um ihn zu schwirren. In der Loungeecke beim Spielen kroch
auch etwas aus seinem Hemdkragen. Mike verdient mehr als ich. Der Hurensohn.