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Neil Young in Florida

Palm trees and shit, man. Palm trees, here we go, murmelt Neil Young im Song „Florida“, der genau genommen gar kein Song ist, sondern eine wie im Halbschlaf vorgetragene Erzählung, zu der ein übersteuertes, unangenehm hohes Feedbackgeräusch aus dem Verstärker drängt. Zu finden ist sie auf dem Album „Homegrown“, das bereits 1974 entstand, aber erstmals 2020 veröffentlicht wurde. Stattdessen gab Young damals den etwa zur gleichen Zeit aufgenommenen Stücken von „Tonight’s the Night“ den Vorzug, die ich nie besonders mochte. Es mag Welten geben, in denen das niemals so gewesen ist: Welten also, in denen „Florida“ bereits 1975 veröffentlicht wurde, mit vielleicht ungeahnten Konsequenzen.

Als ich im Jahr 2022 (das, obwohl es schon vorüber ist, immer noch so ungebrochen nach Zukunft klingt) zum ersten Mal darauf stieß, fand ich die Geschichte verworren und beunruhigend, als wäre sie unter dem Einfluss von starken Medikamenten entstanden. Young erzählt darin, wie er eine namenlos bleibende Kleinstadt in Florida besucht: Er steht dort inmitten von Häusern, die mindestens acht Stockwerke hoch sind und blendend weiß, wie gebleichte amerikanische Zähne. Die Menschen, die ihn umgeben, sehen gut aus. Sie tragen farbige Hemden und leichte Sommerhosen, und alle trinken sie aus Strohhalmen. Die Sonne über ihnen schmunzelt hell. Am Himmel fliegen Segelflugzeuge. Einige Männer folgen ihrem Kurs am Himmel, verschwinden in Gebäuden, kommen wieder heraus und eilen die Straßen hinunter. Ihr starrer Blick ist immer auf die Segelflugzeuge gerichtet. Als er die Szenerie betrachtet, ist Neil Young plötzlich überzeugt, dass nichts davon wirklich ist. Genau in diesem Moment gleitet eines der Segelflugzeuge im Tiefflug über das Stadtzentrum hinweg, gerät ins Trudeln, stürzt ab und zerschellt in einer der Straßen.

Inmitten des aufkommenden Tumults wird Young auf ein Pärchen aufmerksam, das über einen Parkplatz schlendert und miteinander ins Gespräch vertieft ist, als sei nichts passiert. Dann bemerken sie, das ein weiteres Segelflugzeug lautlos und in kreiselnden Bewegungen vom Himmel fällt. Die Frau schreit, aber es ist zu spät: zusammen mit der abgestürzten Maschine verschwinden sie in einer Wolke aus orangefarbenen Flammen und blauschwarzem Rauch. Young eilt herbei, er weiß sofort, dass die beiden tot sind, aber dort ganz in der Nähe liegt ein Säugling auf dem heißen Asphalt, der in eine rosafarbene Decke gewickelt worden ist. Er nimmt ihn an sich, läuft zu seinem Auto hinüber und legt ihn auf den Rücksitz. Ihm ist nicht klar, was er tun soll, er beobachtet nur, wie das Kind schläft, als sich eine Menschenmenge auf dem Parkplatz versammelt.

Eine junge Frau löst sich daraus und rennt direkt auf ihn zu. Sie schreit, dass es ihr Baby sei, das er dort auf seinem Rücksitz liegen habe. Young stammelt, sie würde sich irren, das Kind gehöre dem Pärchen, das eben getötet worden sei, aber die Frau brüllt immer wieder, das stimme nicht („You’re wrong, wrong!“). Dann blickt sie sich plötzlich verwirrt um (als sei sie eben erst zu Bewusstsein gekommen): Sie sieht dunklen Rauch, sieht weiße Häuser und den pastellblauen Himmel über Florida und fragt „Was ist passiert?“.

An dieser Stelle bricht die Erzählung abrupt ab.

*

Im zweiten Pandemiejahr machte ich mit meiner Freundin zusammen Urlaub auf einer Halbinsel an der Ostsee. Wir lebten in einem kleinen Häuschen mit spitzem Giebel, von dessen Veranda aus über Kiefern und Röhricht hinweg ein lagunenartiges Küstengewässer zu sehen war, abgetrennt vom offenen Meer. Im Garten wuchsen Birnbäume, und das Dach wurde beschattet von einer alten Eiche, in der Rauchschwalben nisteten. Ein einziger Maulwurf errichtete auf dem ausgetrockneten Rasen seine Hügel.

An einem Abend gingen wir zum Konzert eines Neil Young-Tribute-Sängers, der auf der Wiese am Hafen ein Konzert für Kurgäste spielte. Wir saßen auf Klappstühlen, die in einigem Abstand vor der kleinen Holzbühne aufgestellt worden waren. Die übrige Zuhörerschaft bestand überwiegend aus älteren Pärchen mit silbernem Haar und Windjacken, die an überteuerten Weißweinschorlen vom nahen Kiosk nippten. Der Neil Young-Imitator ähnelte seinem Vorbild kaum, dafür erinnerte er umso mehr an den inzwischen verstorbenen Sänger Meat Loaf (†You’ve done anything for love). Er trug eine verwarzte Lederweste und schwitzte stark, während er auf seiner schwarzen Les Paul gniedelte. Es sei, sagte er, das letzte Konzert auf seiner Tour.

Unterstützt wurde er von seiner Lebensgefährtin, die nach jedem Song von einer Art Kanzel aus launige Anekdoten über Neil Young vortrug, der so zu einer sagenumwobenen Gestalt wurde, über die man sich Legenden zuflüstert; ein Vagabund oder ein Heiliger, der die Dächer seiner abgelegenen Farm mit unverkauften Schallplatten hat decken lassen, eine Jahrmillionen alte Schildkröte, die die Schuld Amerikas auf sich genommen hat und die Last der Welt auf ihrem Rücken trägt.

Der Tribute-Sänger quäkte noch nasaler, höher und gepresster als sein Vorbild und wirkte dabei, als würde er gleich ins Taumeln geraten und ohnmächtig zusammenbrechen. Der ganze Auftritt, erfuhren wir von der Lebensgefährtin, stand im Zeichen eines schweren Verlusts: Der Partner des Sängers, der dreißig Jahre lang mit ihm getourt hatte (und ihn gelehrt hatte, Neil Young zu hören und zu fühlen), war vor wenigen Wochen überraschend gestorben. Allerdings waren das Gitarrenspiel und die Mundharmonika des Toten das ganze Konzert über noch vom Band zu hören: als letztes, geisterhaftes Tribute an Neil Young und die unendlich ferne Welt der Lebenden.

Über dem Hafengelände ließ die verschwundene Sonne bald ein aschfahles Licht zurück. Die ergrauten Köpfe um uns herum wippten, als zuletzt in Endlosschleife „Keep On Rockin In A Free World“ ertönte, und auch ich sang und klatschte begeistert mit, wie ergriffen von einem Pathos, das ich nicht verstand.

*

Ungefähr ein Jahr später und wenige Wochen, nachdem ich „Florida“ zum ersten Mal gehört hatte, träumte ich davon. Was der Auslöser dafür gewesen war, wusste ich nicht: Vielleicht, weil ich Neil Youngs Alben nach langer Zeit wieder auf Spotify gesucht und nicht mehr gefunden hatte, vielleicht auch, weil ich mich seltsam fühlte. Jedenfalls erzählte Young in diesem Traum den Song „Florida“ (palm trees and shit, man!) erneut, oder besser gesagt: sein Inhalt wurde von meinem Traumbewusstsein recht eigenwillig und frei interpretiert. Der Traum, so lässt sich vielleicht sagen, hatte die Farbe weniger, ganz bestimmter Songs von Neil Young (Songs wie „Ambulance Blues“ oder „On The Beach“): eine unheimliche und doch sonnenmilde Farbe, die es eigentlich gar nicht geben sollte.

In diesem Traum stand ich in seichtem, kniehohem Wasser, in der Nähe eines Flughafens, der zu einem Krankenhaus umfunktioniert worden war. Der Flugverkehr war eingestellt worden: alles war endgültig zum Stillstand gekommen, nur die Sonne kicherte weiter leise über den leeren Stränden der Ostsee, die sich von denen Floridas nicht mehr unterschieden. Bei meinem Versuch, ans Ufer zurückzukehren, rutschte ich aus und stürzte. Vor mir vernahm ich hämische Zurufe. Sie stammten von vier kleinen Kindern, die fünf Jahre alt sein mochten oder sechs: zwei Jungen und zwei Mädchen. Sie alle ähnelten einander, es waren Vierlinge. Ihre Schädel waren kahlgeschoren und sonnenverbrannt. Zusammen spielten sie auf einer rosafarbenen Decke mit kleinen Flugzeugen, die in der Sonne blinkten.

Sie baten mich, ihnen zu folgen, und während wir hintereinander über den Strand gingen, wurden aus den vier Kindern zuerst drei, dann zwei und schließlich nur noch eines, das jetzt wieder einem Säugling glich: Es grinste mich an mit zahnlosem Lächeln und zeigte dabei auf eine riesige Grube, die von Baufahrzeugen ausgehoben worden sein musste. Darin kauerte eine Gestalt und legte komplizierte Muschelbilder in den Sand.

Im Traum wusste ich sofort, dass es der ehemalige Partner war, der einst den Neil Young-Tribute-Sänger begleitet hatte (und dass er zu keinem Zeitpunkt tot oder lebendig gewesen war). Er trug langes weißes Haar und sonst nichts. Ich beobachtete ihn stumm. Nach einer Weile begriff ich, dass die Muschelbilder Präfigurationen der Songs von Neil Young waren (oder Songs von Neil Young in ihrer eigentlichen, ursprünglichen Gestalt, bevor sie in Musik verwandelt worden waren, um verständlich zu werden). Ich glaube, ich erkannte „Cortez the Killer“ und „Thrasher“ und „Everybody Knows This Is Nowhere“.

Als der Mann zu mir aufblickte, bat ich ihn wie selbstverständlich, mir „Florida“ zu zeigen. Er nickte nur. Vorsichtig gingen wir zwischen den komplexen, verschlüsselten Mosaiken entlang: Es mussten Hunderte sein oder sogar Tausende. Schließlich zeigte er auf eines davon, das verhältnismäßig klein war und aus geschwärzten Metallstücken, Autoschlüsseln und Ananasfleisch bestand. Wir betrachteten es lange schweigend: Palm trees and shit, man, sagte ich irgendwann leise. Der Mann reagierte nicht. Dann zitierte er Neil Young, und antwortete mehr zu sich selbst:

We’re all just pissing in the wind.