Raketenmänner :: Manuel Weisshaar

Raketenmänner – Zukunftswünsche und Potenzwahn

Es gibt zwei Typen von Menschen. Die mit Geld. Und die ohne Geld. Früher waren es Könige, Kaiser und Despoten, die Geld gleich Macht unter dem Daumen hatten. Heute sind das Techmillionäre. Die Masse aber, wie schon seit zivilistorischen Urzeiten, freut sich über den Segen der Mächtigen und Reichen.

Ich stelle vor: Der Mann mit der Glatze und dem schiefen Grinsen. Der andere Mann, der den Namen eines Erfinders in ein Produkt verwandelte, und dem schiefen Grinsen. Jeder kennt ihre Namen. Beide bauen Raketen und wollen den Mars kolonisieren. So einfach ist das. Man baut Raketen und auf Wiedersehen. Bis es endlich so weit ist, wird den Massen noch ein bisschen die Weltrettung in Produktform versprochen.

 

Das Buch als Rakete

Raketen, Männer, Potenzfantasien? Moment. Befinden wir uns etwa in einer Spielart des Philip-K.-Dick’schen Universums und erleben, wie die Jetztzeit in Momenten zeitlicher Überschneidung mit der Pynchon-Welt von Gravity’s Rainbow zusammenfallen? Das Schwarzgerät, Imipolex G, die Rakete mit der Seriennummer 00000 – erinnert sich jemand an diesen Text, der mit mehr Leerstellen protzt als man zu füllen bereit ist?
Hatten wir es in Thomas Pynchons zur Kategorie Überroman zählenden Erzählkosmos unter anderem nicht mit dem Sado-Maso-Hauptmann Blicero und einem gewissen Tyrone Slothrop zu tun, der sich im Laufe der Erzählung den Beinamen „Rocketman“ gibt? Blicero, der verkörperte Tod und Fetischist, der seine Allmachtswünsche zu transzendieren versucht, indem er eine Rakete jenseits von Raum und Zeit schießen will. Und Slothrop, ein Trottel und Frauenheld, dessen Sexualität auf Raketen konditioniert wurde. Alles klar, oder?

Wie passen die von der Wirklichkeit inspirierte Fiktion und die von Fiktion inspirierte Wirklichkeit zusammen? Wird uns Philip K. Dick helfen? Oder Wilhelm Reich?

Pynchon stellte, neben vielem anderen, in seinem Großbuch Gravity’s Rainbow die Technikgeschichte des 20. Jahrhunderts als eine des männlichen Potenzwahns dar. Ob Krieg, ob Filmindustrie oder Naturwissenschaft – alles durchdrungen von zwangsneurotischen Möchtegernen mit Angst vorm Ficken. Was bleibt dann noch, wenn man mit bis unter den Scheitel gehemmt ist? Korrekt, der Mann sublimiert, was wir spätestens seid Freud wissen, mal so gar nicht hilft. Aber er macht etwas im Sinne von ‚er handelt‘. Was, das ist zweitrangig, solange es groß ist, größer und noch größer. Ein jeder Perverser in seinen eigenen Obsessionen und Sozialstörungen.
Man liest Pynchons Großbuch mit Amüsement und Unverständnis, was, das braucht man nicht verschweigen, an der bewusst labyrinthischen Erzählart des Autors liegt. Manche finden das genial, manche so lala. Pynchon ist auch nur einer der üblichen Mannschriftsteller, die viel reden, wenn der Tag lang ist. Natürlich gibt sich auch Pynchon seinen Obsessionen hin, wie wir es als Leserinnen tun, und dem Wahnsinn all derer zuschauen, die durch Gravity’s Rainbow stolpern, inklusive seines Verfassers. Das Übergroße zu projektieren, ist nun auch keine neue Idee, sondern sui generis das Zeichen der Romantiker, die Riesenwerke planen und oft genug dran scheitern. Novalis, Hölderlin, Musil, Robert Walser. Was zuerst kam, Wahn, Krankheit oder Schreiben, egal, zugrunde gingen sie an zerbrochenen Herzen und der Einsicht, das Höchste nicht fassen zu können. Auch das keine Neuigkeit, sondern die Bürde des Dichters und des Philosophen, das Eigentliche hinter den Dingen niemals schauen zu können. Ach, Melusine, reiche mir die Mandoline.

Nun aber, im Zeitalter der technischen Prothesen und der Künstlichen Intelligenz (Achtung, hier kommt ein Diskurs) sollte es doch bitte wohl möglich sein, das Riesenhafte im Hier und Heute, also schon morgen!, zu erreichen.

Ist die Vernunft denn übergeschnappt?

Wir erinnern uns an den Mann mit der Glatze und den Mann, der den Namen eines anderen Mannes stiehlt, um Produkte daraus zu machen. Beide haben verstanden, wie das geht. Das Großkapital genannt Investoren steht hinter ihnen. Sie, die Investoren, die zwanghaft versuchen, ihr vieles, vieles Geld irgendwie für sich arbeiten zu lassen, sind ja auch nur wie alle anderen, wie wir, die Armen, die sich von jeder Erzählung, wenn sie denn attraktiv genug für die eigenen Ohren klingt, einlullen lassen. Die Erzählung, die das Kapital unserer Zeit hören will, sind Versprechen auf den Wohlstand in der Welt von morgen. Diese sieht für Nichtinvestoren so aus. Es ist eine Welt, in der wir = Konsumenten per Gedankensteuerung mit Produktanbietern kommunizieren, in der uns alles Lästige = Arbeit von Drohnen abgenommen wird, ja, eine Welt, in der ich das Elend der anderen endlich einmal effektiv und dauerhaft ausblenden kann. Ignorance is bliss. Das ist den Investorenmenschen, die diesen Erzählungen glauben, Millionen und Milliarden wert. Früher konnte man totalitaristische Führer noch an ihrem distinktiven Äußeren erkennen. Heute, da wir in der Epoche des bisher effizientesten Totalitarismus leben, dem Konsumismus, ist es das joviale Grinsen und der Geruch nach Geld, der Menschen zu Erlösern macht und eine Aura der Allwissenheit verleiht. Gib mir Technik, ich geb’ dir meine Seele.

Ja, aber, das geht doch nicht, will da die Vernunft ausrufen. Gleich mit der Nazikeule zu kommen und so fort. Welche Vernunft?, frage ich. Die der bürgerlichen Aufklärung, die des Kommunismus oder einer anderen [bitte Name einsetzen] Ideologie? Für Wilhelm Reich lagen die Gründe des praktischen Faschismus (der Umsetzung der Ideologie als Politik) in der kleinbürgerlichen Familie, im Patriarchat. In dem, was auch heute die schweigende Mehrheit genannt wird und in dieser Form fortexistiert. Dass man darum kämpfen müsse, den Faschismus immer und immer wieder fortzujagen, auch das sagte er. Er starb in einer Irrenanstalt.

Kleine Leute machen große Politik

Aber, ruft der gesunde Menschenverstand aus, wir haben doch eine Erinnerungskultur. Richtig, ein staatliches Monopol, unter dem Denkmale aufgestellt werden, die als Fotokulisse für Selbstdarsteller und Spottobjekt von nationalsozialistischen Bauernfängern missbraucht werden. Und unter welchem ein Mann von auffallend angestrengtem Äußeren mit fragwürdiger Reputation und maßgeschneiderten Anzüglein sagt, er mache Politik, damit das nicht wieder geschehe. Eben dieses Das – die größte Leerstelle in der deutschen Geschichte. An diese Leerstelle wagte sich Thomas Pynchon in seinen technischen Masturbationsfantasien über den Mannfaschismus übrigens nicht ran. Der Mann im Maßanzüglein also stellt sich heute hin und erläutert mit Roboteremotionen, dass man außenpolitisch mal wieder vesagt habe, es aber besser wisse, weil das ist so. Das heißt Menschen sterben aufgrund einer Ideologie, die willkürlich über das Leben von anderen Menschen bestimmt, weil andere zu feige sind, ihnen beim Menschsein beizustehen.

Jetzt mal langsam, mahnen Herz und Hirn, permanent in Gefahr vom Schlag getroffen zu werden. Was hat das eine mit dem anderen … genau.

Auftritt Lokalpolitiker eines von lauter Minderwertigkeitskomplexen geplagten Flächenlandes an der bundesrepublikanischen Peripherie, der Grenze zum wilden Osten. Zwanzig Jahre ist her, da hatten auch sie mal eine Zukunft vor sich, die Brandenburger Landespolitiker, nach dem sie endlich auch an den Gardasee fahren und über die Grenzen ihres kleinen Landes hinaus, die Luft mit ihren lustigen kleinen Autos verpesten durften. Aber was ist draus geworden? Leere Versprechen eines übergewichtigen Machtmenschen und die doofe Mannjugend, die vor lauter Unzufriedenheit sich den Hitler auf die Brust stechen lässt, während sie ganz peinliche Lieder grölt und im Vollrausch den Audi aus der Kurve gleiten lässt an den nächsten Baum. Jene Landespolitiker also, die bis heute in ihren drögen Landschaften und noch immer auf die versprochene Blüte warten, ärgern sich darüber, dass sie zwar Teil der Welt unter den Fittichen einer ähem Volkspartei sind, aber doch den Eindruck nicht loswerden können, als interessierte sich, erstens, niemand für sie und, zweitens, als drehte sich die Welt mit allen ihren tollen Dingen an ihnen und ihren bescheidenen Zukunftswünschen (Gardasee und Carport) vorbei. Schnief.
Was macht man also, wenn man nichts hat, wirklich nichts, als Land. Naja, und der Zufall es so will, dass man (Reichsautobahn sei Dank, Luftküsse an Herrn Scheuer und seine Predezessoren) am Rand einer der vielversprechendsten Citys der lieben weiten Welt liegt. Diese Stadt, die früher Berlin hieß und heute Katsching, wird mehr von ihrem Ruf getragen als irgendetwas anderes. Ist zwar auch schon zwanzig Jahre alt, dieser Ruf, aber was soll’s. In Deutschland gehen die Uhren anders, wir wissen das. Nun also, dies viele, viele Land, muss doch zu irgendetwas gut sein. Man muss nicht an der Otto Beisheim School of Mismanagement Seilschaften geknüpft haben, um zu wissen, wie der „Hase heute läuft“. Menschen wollen zwei Dinge, jeden Tag: mobil sein (Freiheit!) und Pakete erhalten = Geschenke bekommen. Wie Weihnachten und der achtzehnte Geburtstag an einem Tag, jeden Tag.
Beides bieten die Männer, der eine mit der Glatze, der andere, der anderen nicht nur die Namen stiehlt, an. Ersterer hat es geschafft, die halbe Welt in Bewegung zu setzen und die Löhne so vieler Menschen zu drücken, sodass noch am selben Tag der bestellte Schlüpper oder Dosenöffner nach Hause an die Haustür geliefert werden. Das machen heute noch sogenannte Menschen in minderen Erwerbsberufen. Bald machen es Drohnen. Und die sogenannten Menschen dürfen die Drohnen putzen, bis eine Drohne erfunden wurde, die die Drohne sauber macht und so weiter.

Zweiterer Raketenmann verspricht eine bessere Welt durch Elektromobilität. Seltene Erden und andere Ressourcen, die im Boden von „Dritte-Welt-Ländern“ liegen? Ja und ja. Und, na und? Wollt ihr jetzt guten Gewissens (was ist das?) zum Biomarkt fahren und auf’s Land, um selbst geschnitzten Ziegenkäse zu löffeln? Hauptsache fair. Gibt auch Geld vom Staat. Zehntausend für Dich und eine Milliarde für mich, denn die Autos müssen ja fahren, mit Strom und der kommt aus der Batterie, logo. Ruft da ein „Dritte-Welt-Kind“? Was will es, ich kann es nicht hören bei dem Fahrtwind auf der tempolimitlosen Reichsautobahn, herrlich.

Nun steht er da, der Landespolitiker mit anderen Lokalpolitikern und freut sich, dass der „Meister“ selbst sich herablässt, in die Provinz zu jetten, um sich diesen langweiligen märkischen Sand anzuschauen, auf dem seine Raketenabschussbasis Schrägstrich Auto- und Batteriefabrik gebaut wird. Wie Hauptmann Blicero im Harz in Gravity’s Rainbow. Selbstverständlich habe ich eine Baugenehmigung, sagt der Namensdieb. Hier, haste ’nen Spaten und jetzt ran an die Arbeit. Da kocht der Stolz den Landespolitikern bald aus dem zu eng sitzenden Hemdkragen, wenn sie neben dem „Meister“ stehen dürfen und vielleicht schaut er ihnen ja sogar mal in die Augen. Sie haben sich auch extra eine neue Jacke gekauft.
Und wie kleine Jungen, die ganz aufgeregt davon berichten, wie sie mit den Großen spielen durften, plappern sie leutselig von ihren Abenteuern mit dem Mann, der den Namen eines andern stiehlt. Grins, Wangetätschel, gut gemacht. Und das Beste ist, sie gewinnen doppelt. Die Landespolitiker erfüllen das Wählerversprechen (welches war das noch gleich?) und dürfen einem der zwei reichsten Männer des Universums die Füße küssen. Vielleicht haben sie auch noch die Erstgeborene zur Ehe mitgegeben, um den Bund zu stärken, aber das weiß man nicht.

Sex und Arbeit

Nach so viel Niedertracht, was Gutes zum Schluss. Nach Wilhelm Reich führen zwei Wege zum Glück, man könnte auch sagen, nicht in die Depression und den Wunsch, die Welt zu vernichten: Arbeit und Sexualität. Arbeit haben. Sexualität ausleben und nicht unterdrückt zu werden und/oder unterdrückt worden zu sein. (Stichworte kleinbürgerliche Familie, Patriarchat, Kontrolle der Sexualität von Frauen, Faschismus.) So also könnten wir unsere Philippika ins Positive wenden, wenn wir gemäß neoliberaler Logik feststellen, dass wir = die Armen teilhaben dürfen am Produktsegen der Raketenmänner. Denn erst einmal braucht es Arbeitskraft und die kommt noch immer von Menschen (keine Sorgen, die Herren Investoren, bald machen das die Maschinen und Menschen werden Soilent Green, zwinker). Solange es Arbeit gibt, auch wenn das heißt, den Kehricht unter den Maschinen zusammenzufegen, darf man am Glücksversprechen des Kapitalismus teilhaben. Und wem das nicht genug ist (immer diese Ansprüche an Würde und Freiheit!), der zieht auf’s Land und betreibt Subsistenzwirtschaft oder gibt sich irgendeiner anderen Utopie hin. Der Rest, nun, der wartet eben auf das Licht am Ende des Tunnels, und wünscht sich für das nächste ein besseres Leben.

Wo bleibt die Sexualität? Die wird wie so vieles ins Digitale ausgelagert. Bald wird es in jedem Winkel der Erde kostenloses Internet geben, auch daran arbeitet der Namensdieb. Was bedeutet, Pornografie, vor allem also Frauenkörper, werden wie schon heute kostenlos auf Pornoseiten angeboten. Masturbation ist nicht dasselbe wie Penetration, wusste Wilhelm Reich, aber damals gab es weder Internet noch Datenberge von pornografischem Material, bei dem jeder, wirklich jeder seinen sogenannten Leidenschaften nachzugehen glaubt. Da findet selbst der eingefleischeste Sade-Leser dessen weltverschlingende Perversionen ausillustriert.

Die Spinne im Kopf

Auftritt Philip K. Dick. Befeuert von diversen Stimulanzien war es dem Autor in den Sechziger- und Siebzigerjahren zeitweilig möglich, seine körperliche Hülle abzustreifen und in die höheren Sphären zu reisen. Wer interessiert ist, recherchiert zum Thema Astralreisen. Dort, auf der Astralebene kann man Philip bestimmt noch heute treffen. Oder man liest sein Kompendium Exegesis. Aber zur Sache. In Dicks Erzählung The Three Stigmata of Palmer Eldritch erfahren wir unter anderem von einem Mann, der auszog, um in einer anderen Galaxie nachzuschauen, ob es da auch so schön ist wie in der Milchstraße. Man spoilert nicht, wenn man sagt, der Mann kommt verändert zurück. Er entzog sich nach seiner Rückkehr der Gesellschaft, um seine ganz eigenen Machtfantasien auszuleben oder eher auszudenken, denn der Mann spukt fortan durch die Erzählung wie durch die Köpfe ihrer Protagonisten.

Was hat das mit dem Mann mit der Glatze und dem Namensdieb zu tun? Auch sie spinnen in unseren Köpfen herum. Wie Palmer Eldritch, aber auch wie Imipolex G, das Schwarzgerät und die fünffache Null. Ideen, die jenseits ihrer fiktiv-materialistischen Bindung ein Eigenleben führen. Die sich festsetzen und selbst reproduzieren, wachsen und gedeihen, bis sie schließlich eine eigene Realität geschaffen haben, in der sie wirklich existieren. Nur braucht es die richtige Sicht, um diese Realität schauen zu können.

Die wie ausgedacht klingenden Namen der Raketenmänner sind ähnlich wie diese Ideen nichts als Konzepte, Vorstellungen, man könnte auch sagen, Chiffren für Ideologien als das sie tatsächlich lebendig wären. Und die beste aller Welten, die wir heute haben, ist die, die die beste aller Verkaufsideologien bietet. Deswegen will ich jetzt mein Paket auspacken und meinen Elektrowagen an die Ladesäule anschließen. Ich muss noch konsumieren.