1.
Ich sah einhundert Giganotosaurier in dicht gedrängten Reihen stehen wie Autos auf einem Parkplatz. Ihre Schuppengewänder schimmerten jadegrün und schlammfarben und kupfergolden, als seien sie eben erst benetzt worden von feinem, kaum sichtbarem Regen. All ihre Bewegungen erfolgten synchron und glichen einander: Das leichte Nicken der Köpfe, das sanfte Pendeln der Schwänze. Ihren ausdruckslosen Gesichtern war ein totes Lächeln eingeschrieben. Wenige Meter vor ihnen verharrte ein einziger Titanosaurus reglos im Staub. Seine ziegelbraune Haut bedeckten Teile eines Knochenpanzers, wie zerschlagene Brocken aus Kalkstein wirkten sie. Wolken spiegelten sich in der hohen Glasmauer, die die Echsen umgab und nur gelegentlich unterbrochen wurde von steinernen Säulen, auf denen große Metallringe silbern blinkten.
2.
Der Giganotosaurus gehörte einst zu den größten landlebenden Fleischfressern des Planeten Terra und lebte vor etwa 100 Millionen Jahren auf dem südamerikanischen Kontinent. Sein Name bedeutet Riesenechse des Südens. 1987 fand ein Autohändler am Ufer eines Stausees in Argentinien durch Zufall erste Fossilienreste, die später von Paläontologen sorgsam geborgen und beschrieben wurden. Der Titanosaurus dagegen geht auf den Fund zweier bis dahin unbekannter Schwanzwirbelknochen aus dem Jahr 1828 zurück: Ein Kolonialbeamter des britischen Empires, dessen Aufgabe es war, die kriminellen Thuggee-Bruderschaften endgültig zu zerschlagen, entdeckte sie auf einem Hügel nahe Jabalpur in Zentralindien. Die Knochen wechselten mehrfach den Besitzer, ehe ein Naturforscher der Royal Academy sie 1867 im Rahmen einer Studie über die fossilen Wirbeltiere Nordindiens mit Oberschenkelknochenfunden aus derselben Gegend und einigen weiter entfernt ausgegrabenen Wirbeln kombinierte: Das daraus entstandene Tier nannte er Titanosaurus indicus. Inzwischen nimmt man an, dass eine solche Spezies nie durch die urzeitlichen Landschaften von Terra streifte: Für die seriösen Wissenschaften existierte sie nur 125 Jahre lang, aber in der kollektiven Vorstellungskraft lebt sie noch immer fort.
3.
Ich beobachtete, wie die Giganotosaurier sich ganz plötzlich in Bewegung setzten, als gehorchten sie einem geheimen, lautlosen Kommandobefehl. Ihre Köpfe hielten sie gesenkt, ihre Schwänze schlugen aus und zuckten. Sie umschwärmten ihr Opfer wie Forellen. Mehrfach bäumte der Titanosaurus sich auf, stampfte ratlos mit baumstammdicken Vorderbeinen, beschränkte sich aber bald darauf, seinen langen Hals über das brodelnde Gemenge schweifen zu lassen und das Geschehen gleichermaßen unbeteiligt wie neugierig zu betrachten. Auf seiner Haut bildeten sich zarte, dunkelrote Blüten, die sich ausbreiteten wie Weinflecken auf einer Stofftischdecke. Als er zusammenbrach, verwandelte sich der Titanosaurus in einen unförmigen, blutbesudelten Klumpen. Noch ehe sein Körper vollends auf die Erde niedergesunken war, löste er sich auf ins Nichts und die Mäuler der Giganotosaurier schnappten ins Leere.