Du betrachtest gerade Vergessene Science-Fiction-Serien: “Palomino” (Folge 1-3)

Vergessene Science-Fiction-Serien: “Palomino” (Folge 1-3)

Auf meiner Suche nach Orientierung innerhalb dieser chaotischen Komplexität voller Resonanzen, Rückkopplungen und Überlagerungen, die ich mangels eines besseren Begriffs Gegenwart nannte, behalf ich mir gelegentlich mit mittelalten amerikanischen TV-Serien, die einigermaßen gründlich vergessen worden waren. „Palomino“, das mir O. eindringlich empfohlen hatte, war vom amerikanischen Network NBC produziert und von September bis Oktober 2009 auf dem damaligen Science-Fiction-Channel ausgestrahlt worden. Wegen durchgängig schlechter Einschaltquoten bei verhältnismäßig hohen Produktionskosten setzte man die Serie bereits nach dem Mid-Season-Finale ab.

Obwohl der Privatsender ProSieben zunächst Interesse daran bekundete, „Palomino“ unter dem Titel “Der Palomino-Effekt” in seine Reihe „ProSieben Mystery“ aufzunehmen, kam es nie zu einer Ausstrahlung im deutschen Fernsehen. Als ich die Serie in mäßiger Qualität bei einem inzwischen abgeschalteten illegalen Streamingportal schaute, hatte ich das Rauchen gerade wieder angefangen. Abends saß ich mit aufgeklapptem Laptop auf dem Balkon, drehte Zigaretten und trank Leitungswasser mit tiefgefrorenen Himbeeren. Im Innenhof detonierten Böller wie Sprengsätze. Aus der Ferne heulten beharrlich die Sirenen.

*

Episode 1: “The Fluid”

Caleb Calloway, 17, ist ein psychisch labiler Teenager, der in der fiktiven texanischen Kleinstadt Masonville am Rande der Wüste lebt: als Burgerbrater, Kleindealer, Schulabbrecher. Caleb stößt alle von sich, respektiert keine Regeln. Seine Wut betäubt er mit Codein, Alkohol und Marihuana. Einige Jahre vor Beginn der Handlung hat sein Vater eine Flasche Bleichemittel getrunken und verdämmert seither in einer Pflegeeinrichtung. An Caleb kann er sich nicht erinnern. Die Mutter ist inzwischen mit einem neuen Mann zusammen: einem Zahnarzt mit gebleichtem Lächeln, der die Rechnungen für das Pflegeheim des Vaters zahlt und Caleb für kaum mehr als einen nutzlosen Versager hält.

An einem heißen Sommermorgen, als Caleb gerade auf dem Rasen des Zahnarzts liegt und Gameboy spielt, sieht er ein seltsames, insektoid anmutendes Flugobjekt am wolkenlosen Himmel. Es summt leise und klickt, dann gerät es außer Sicht, verschwindet irgendwo hinter der Stadt, in den Badlands, dort, wo die illegalen Müllkippen sind. Caleb blickt ihm zunächst nur neugierig hinterher, ehe er aufspringt und ihm folgt. Unterwegs trifft er auf Trey Sobczek, einen wenige Jahre älteren Kleinkriminellen und Drogensüchtigen, dem er gelegentlich Gras verkauft.

Die beiden suchen und finden das Flugobjekt: Es liegt, zerbeult und halb zerstört, in einer vermüllten Senke. In Form und Gestalt ähnelt es nichts, was sie je zuvor gesehen haben. Aus einem Riss in der Außenhülle leckt eine klare, kristallin funkelnde Flüssigkeit. Als Caleb sich ihr mit einem Finger nähert, richtet sie sich die Flüssigkeit auf wie eine Raupe oder ein erigiertes Glied. Bei der Berührung fühlt Caleb einen unerträglichen, weißen Schmerz. Sein Blick verschwimmt, er wirkt verwirrt, steht auf und taumelt herum: Dann verliert er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kommt, liegt er in einem Graben am Rand einer dicht befahrenen Schnellstraße. An das Geschehene kann er sich nicht erinnern.

Episode 2: “Where Am I”

In den kommenden Tagen gehen erste Veränderungen in ihm vor: Er hat wiederkehrende Visionen von niedrigen Gängen und Brücken, einem unbekannten Strand, auf dem der Sand lebendig zu sein scheint. Er sieht einen Mann, dessen Gesicht aus Glas ist. Eines Nachmittags wird ihm plötzlich schwarz vor Augen und er findet sich im Körper der Walmart-Angestellten Shelby Dorsey wieder. Nach ersten Momenten völliger Irritation und Verwirrung bemerkt er, dass er noch immer er ist; dass er Shelby steuern kann wie einen Avatar und völlige Kontrolle über ihren Körper besitzt. In einem Anfall von Panik lässt er Shelby den Walmart verlassen und das Haus des Zahnarzts aufsuchen. Dort sieht er sich selbst am Boden, krampfhaft zuckend, als erlitte er einen epileptischen Anfall.

Caleb/Shelby glaubt zu sterben und ruft den Notarzt. Kurze Zeit später ist der Spuk vorüber: Caleb erwacht in einem Krankenhaus, er erinnert sich an nichts. Am selben Tag erfährt er von seiner Mutter, dass seine vermeintliche Retterin Shelby inzwischen wegen unerlaubten Verlassens ihres Arbeitsplatzes entlassen worden ist. Niemand wisse, was sie im Haus des Zahnarzts zu suchen gehabt habe. Ob er etwas dazu sagen könne? Caleb schüttelt den Kopf. Seine Anfälle, die sich nun zu häufen beginnen, ähneln Tagträumen: Aus dem Nichts wird er aus seiner Wirklichkeit gerissen und in die Körper offenbar zufälliger, beliebiger Personen versetzt. Er kann es nicht kontrollieren, es scheint, als würde jemand anders das für ihn tun. Während der Anfälle quillt ihm Schaum aus dem Mund, vermengt mit kristalliner Flüssigkeit. Seine Erinnerungen an die Geschehnisse vor den Körperwechseln sind verwaschen und traumartig. Bald ähnelt sein Gesicht dem eines Toten.

Als er einmal im Körper von Lloyd Peters aufwacht, seinem Chef aus dem Fastfoodlokal, bedrängt Caleb (aus gekränkter Eitelkeit oder aus Rachsucht) seine Arbeitskollegin Lily Banks, die ihn wiederholt zurückgewiesen hat. Zunehmend berauscht von seiner neuen Macht, vergewaltigt Caleb/Lloyd sie in einer Abstellkammer. Als er, zurück im eigenen Körper, erneut im Krankenhaus aufwacht, erinnert er sich an nichts. Die Ärzte sind ratlos. Zu seinem Entsetzen träumt Caleb noch unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln, wie er Lily Banks vergewaltigt. Tags darauf wird Lloyd Peters festgenommen.

Episode 3: “Monkey Gone to Heaven”

Calebs Alltag gerät zunehmend aus den Fugen: Sein Stiefvater hat die Kassiererin Shelby Dorsey inzwischen wegen Einbruchs angezeigt. Die Polizei, die Shelbys Aussage überprüft hat, stellt Caleb dazu Fragen, aber natürlich ergibt weder ihre Geschichte für sie einen Sinn, noch die Rolle, die Caleb darin spielt. Zudem erkundigen sie sich nach dem Verschwinden von Trey Sobczek, ohne dass er etwas dazu sagen könnte. Allerdings finden sie in seinem Zimmer mehrere Pakete Marihuana und nehmen ihn fest. In der Zelle auf dem Revier sitzt er neben dem angeblichen Vergewaltiger Lloyd Peters, der unaufhörlich wimmert und sich mit den Fäusten gegen den Kopf schlägt: Er wisse nicht, was ihm widerfahren sei, wie ihm das habe passieren können. Tags darauf wird Caleb entlassen, sein Stiefvater hat die Kaution übernommen. Noch auf dem Parkplatz eröffnet er ihm, dass Caleb sein Haus nie mehr betreten dürfe. Die Mutter steht weinend daneben, stammelt, dass Caleb doch krank sei. Dennoch leistet sie keinen Widerspruch.

Caleb kommt zunächst provisorisch in der Pflegeeinrichtung seines Vaters unter, toleriert von Jules Villasante, 24, einer Pflegerin mexikanischer Abstammung, die als erste Person auftritt, mit er eine Art emotionaler Verbindung aufbauen könnte. In dem stickigen Zimmer stellt Caleb seinen apathischen Vater zu Rede, jahrelang aufgestaute Vorwürfe brechen sich Bann: Warum der Vater das damals getan habe? Wie er ihn, Caleb, einfach habe zurücklassen können? Er habe ihn doch geliebt? Der Vater blickt ihn mit leerem Gesicht an, dann macht er sich in die Hosen.

Calebs Halluzinationen werden in dieser Nacht heftiger: Er sieht den Mann mit dem Glasgesicht mitten auf einem von Neuwagen übersäten Parkplatz in der Wüste, sieht eine zerstörte Mastfarm, wo die Kadaver verwester Schweine herumliegen, sieht ein tiefes Gewässer, in dem der Umriss von etwas Riesigem, Dunklem sich nähert. Im Morgengrauen wacht er im Körper seines Stiefvaters auf. Wie selbstverständlich steigt Caleb/Stiefvater nun in seinen Subaru und fährt zur Pflegeeinrichtung. Dort erstickt er (Caleb/Stiefvater) seinen leiblichen Vater mit einem Kissen, während Calebs Körper auf dem Klappbett daneben ekstatisch zuckt, als würde er sich dagegen wehren. Dann, auf dem Rückweg, provoziert er einen Autounfall, in dessen Folge der Stiefvater schwer verletzt wird und im Koma landet. Caleb wacht apathisch und erinnerungslos neben seinem toten Vater auf. Er läuft zurück nach Hause, wo die Mutter am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht. Nachts träumt er davon, wie er seinen Vater mit einem Kissen erstickt. Er fährt hektisch aus dem Schlaf, erfüllt von der schrecklichen Ahnung, dass er selbst etwas mit den Vorfällen zu tun haben könnte.

*

Nach den ersten drei Folgen fragte ich mich, ob ich die Serie deshalb so beunruhigend fand, weil ich, ohne eine konkrete Erinnerung daran zu haben, Teile davon bereits vor über einem Jahrzehnt im Fernsehen gesehen haben könnte. Und ob sich diese Szenen, Bilder und audiovisuellen Fragmente seither vielleicht immer weiter in meinem Unterbewusstsein (oder Traumbewusstsein) zersetzt hatten, längst unendlich klein und winzig geworden waren, und nun wie molekularer Staub alles bedeckten, unverständlich geworden und fremd.

Ich machte eine kurze Pause und schaute in den Abendhimmel über Neukölln, der so wenig echt wirkte wie die simulierte Landschaft des eben erschienenen Bildschirmschoners. Dort (auf dem spiegelnden Screen) glitt etwas Unbekanntes in großer Höhe zwischen einsamen, schwarzen Bergketten entlang. Darunter versanken leere Täler in bonbonfarbenem Nebel. Ich klickte die Moorhuhn Slot Machine beiseite, die hinter dem Bildschirmschoner aufgeploppt war, dann startete ich schon die nächste Folge.