Der tote :: Manuel Weißhaar

Der Tote

Heute ist Spider-Man gestorben. Passiert ist es auf einer der riesigen Skateanlagen, die an manchen Tagen wie Raumschiffe über New York City hängen. Fallschirmskater üben dort für gewöhnlich ihre spektakulären Tricks, bis die Flugechsen, denen der Himmel gehört, sie vertreiben.

Die Aufnahmen zeigen sämtliche Details des Geschehens aus allen Winkeln und in ungeheuer hoher Auflösung. Man kann beobachten, wie Spidey um die silbernen Superwolkenkratzer am unteren Ende des Central Parks schwingt, sich in die Höhe katapultiert und dabei Fäden in Richtung der schwebenden Skateanlage abfeuert. Die Plattform oberhalb der Rampe, auf der er nach einer atemberaubenden Schraube landet, bietet kaum Platz für ein Dutzend Personen. Außer Spidey sind vier Frauen anwesend. Die Luft muss dünn sein und kalt in diesen Höhen, und doch tragen die Frauen auf den Aufnahmen nur knappe Bikinis, auf denen Produktwerbung aufgedruckt ist. Sie sitzen auf Mülltonnen, die jemand dort abgestellt hat, wühlen darin oder tanzen darauf. Fliegen surren um sie herum.

Wenn man nur nahe genug heranzoomt, erkennt man, dass es gar keine echten Fliegen sind.

    What’s poppin, fragt eine der Frauen nun etwas gelangweilt. Sie ist diejenige, die auf der Mülltonne steht. Sie trägt ein Stirnband mit dem Logo eines Baumarkts in den Haaren und einen Hammer in den Händen, mit dem sie einen unsichtbaren Nagel in das tiefe Blau des Himmels schlägt.

    I’m feeling good, antwortet Spidey ihr. Seine Stimme klingt überdreht und viel zu laut. Dann brüllt er: Let’s go! und tritt ganz unvermittelt gegen die Mülltonne. Die überraschte Frau stürzt die steile, mit Werbebannern überzogene Rampe aus Sperrholz hinunter, die aus dem Himmel hängt wie eine riesige Zunge, sie überschlägt sich mehrfach und bricht sich dabei das Genick.

Sie hat nicht einmal Zeit gehabt, zu schreien.

Alle sind bestürzt gewesen, als sie diese Bilder gesehen haben. Warum Spidey das getan hat, weiß niemand von uns. Seltsamerweise scheinen die anderen Frauen auf den Aufnahmen sich nicht für den Vorfall zu interessieren: Eine von ihnen wühlt weiter in ihrer Mülltonne, die andere isst einen Donut, der aussieht, als sei er aus Plastik. Die dritte tanzt unbeeindruckt auf ihrer Tonne. Zu unserem grenzenlosen Entsetzen stößt Spidey sie alle hinunter, eine nach der anderen. Dann wirft er sich selbst hinterher. Bevor er über den Rand am unteren Ende der Rampe stürzt, prallt er gegen eine hohe Mauer aus Bierkisten, die jemand dort aufgestellt haben muss. Von dort fällt er inmitten eines Regens leerer Bierflaschen in die Stadt hinunter. Er macht keine Anstalten, seine Spinnenfäden zu benutzen, um sich zu retten. Eine Windböe reißt ihn hinüber nach Downtown, wo er auf der Dachterrasse des Beekman Towers mitten in einem Schwimmbecken aufschlägt, um das herum Badegäste in Liegestühlen sitzen und Eistee trinken. Ein riesiger, von schrecklichen Brandnarben verunstalteter Hai dreht darin ziellos seine Runden. Der Hai schnappt nach Spideys zerschmettertem Körper, zerrt ihn mit sich und schüttelt ihn heftig. Er reißt ihn in Stücke dabei, sodass Teile des Torsos und einige Innereien auf dem Dach der Pace University landen, wo sie schon nach einigen Sekunden verschwinden.

Nur wenige Minuten, nachdem diese Aufnahmen von Unbekannten verfügbar gemacht worden sind, hat das NYPD ihre Echtheit bestätigt. Seither rätselt die Cloud, wer diese Frauen gewesen sind, oder wo sich die Rampe befunden hat, die aus dem Himmel über New York hing. Sie existiert natürlich längst nicht mehr, und auch die Leichen der Frauen haben sich vermutlich schon während ihres Sturzes aufgelöst. Um die Vorfälle herum gibt es allerdings weiter hitzige Diskussionen und Spekulationen: Viele glauben, dass man Spidey eine Falle gestellt hat; andere meinen, er hätte endlich sein wahres Gesicht gezeigt. Kaum jemand glaubt wirklich an seinen Tod. Und tatsächlich sind bereits Aufnahmen vom frühen Nachmittag aufgetaucht, die ihn in Brooklyn zeigen, in einem Gebüsch im Prospect Park.

Ich aber bleibe erst einmal skeptisch: Ich glaube nicht, dass man jemals wirklich zurückkehrt, und selbst wenn, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Spidey endgültig gelöscht wird.